Vielfalt ist nicht die Abwesenheit von Konflikten
Warum passen Widerspruch und Respekt auf den ersten Blick nicht zusammenpassen?
Als ich vor einigen Tagen meinen letzten Beitrag auf LinkedIn postete, schrieb jemand einen Kommentar ("Widerspruch und Respekt sind Geschwister."), der mir viele Tage nicht aus dem Kopf ging. Dann fiel mir ein Vortrag ein, bei dem es um Schwesterntugenden ging, und plötzlich fügten sich die Puzzleteile in meinem Kopf zu einem stimmigen Bild zusammen.
Wer mit dem Begriff Schwesterntugenden (noch) nichts anfangen kann, hier eine kurze Erklärung: Die meisten Werte funktionieren nicht allein und brauchen ein Gegenüber, das sie ergänzt und dafür sorgt, dass sie im Gleichgewicht bleiben.
Ein paar Beispiele:
| Gerechtigkeit und Barmherzigkeit
Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit kann kalt und unnachgiebig machen, und Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit kann zu Beliebigkeit führen. Beides zusammen kann für Klarheit sorgen und Mitgefühl bewahren.
| Freiheit und Verantwortung
Freiheit ohne Verantwortung kann schnell den Halt verlieren, und Verantwortung ohne Freiheit kann sich wie Zwang anfühlen. Erst im Zusammenspiel kann Freiheit lebendig bleiben, weil sie Verantwortung kennt, und Verantwortung kann an Tiefe gewinnen, wenn sie aus Freiheit entsteht.
| Vertrauen und Kontrolle
Kontrolle ohne Vertrauen kann zu Misstrauen führen und jede Beziehung lähmen, und Vertrauen ohne Kontrolle kann blind für Risiken machen. Im Zusammenspiel kann eine verlässliche Basis entstehen, auf der Freiheit und Sicherheit nebeneinander bestehen können.
| Selbstbewusstsein und Demut
Selbstbewusstsein ohne Demut kann schnell in Arroganz kippen, und Demut ohne Selbstbewusstsein kann zu Abhängigkeiten führen. Beides zusammen kann für eine innere Sicherheit sorgen, die weder in Überheblichkeit noch in Selbstverleugnung endet.
| Respekt und Widerspruch
Respekt ohne Widerspruch kann zu Gleichgültigkeit oder Harmoniezwang führen, und Widerspruch ohne Respekt kann verletzend und zerstörerisch sein. Im Zusammenspiel können sie allerdings die Basis für ehrliche, verbindliche und lebendige Beziehungen bilden und letztlich auch eine nachhaltig gelebte Vielfalt möglich machen.
Genau hier liegt für mich übrigens die Herausforderung bei gängigen Diversity-Strategien. Viele sind darauf ausgelegt, eine Vielfalt zu versprechen, die frei von Konflikten ist. Doch wirklich gelebte Vielfalt kann nur lebendig und menschlich bleiben, wenn wir einander widersprechen können, ohne gleich die Verbindung zu kappen, und das wiederum kann entstehen, wenn wir Respekt und Widerspruch gemeinsam denken, quasi als zwei Seiten einer Medaille.
Alles andere bleibt Fassade und führt zum Stillstand.
Am Ende bleibt für mich die Frage, wie Vertrauen überhaupt wachsen und entstehen kann, wenn wir einander nie widersprechen dürfen...!